Das Karlsruher Urteil vom 10. Oktober 2017 zum dritten Geschlecht hat in den letzten Monaten viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So widmete sich auch das ZEIT Forum Wissenschaft mit einem transdisziplinären Diskussionspanel, bestehend aus Volker Beck, Vanja und Professorin Hertha Richter-Appelt zusammen mit den Moderatoren Andreas Sentker und Ulrich Blumenthal am 27. Februar 2018 in Berlin diesem Thema.
Die Anwesenden waren sich einig: Die binäre Geschlechtereinteilung in „weiblich“ oder „männlich“ ist allgegenwärtig. Hertha Richter-Appelt müsse selbst bei einer Reise mit ihrem Cello demselben ein Geschlecht zuweisen. „Abhängig davon, ob ich es in einer Kiste oder einem Sack transportiere, ist es männlich oder weiblich.“ Wozu brauchen wir überhaupt eine Geschlechtereinteilung, die bis ins Lächerliche praktiziert wird? Bevor das „Patriarchatsabschaffungsgesetz“ eingeführt werde, sei die Zweigeschlechtlichkeit an mancher Stelle noch notwendig, um strukturelle Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu entlarven, meinte Volker Beck. Man war sich jedoch einig, dass nach Erreichen der Gleichberechtigung aller Menschen die Benennung der geschlechtlichen Identität überflüssig werde.
Trotz dieser Notwendigkeit ist Lächerlichkeit nicht das einzige Problem, das die binäre Geschlechtereinteilung mit sich bringt. Menschen, die nicht eindeutig in eine der beiden Kategorien „passen“, macht sie gesellschaftlich unsichtbar. Schlimmer noch, bisher wurden Intersexuelle in der Absicht, zu heilen, durch chirurgische und hormonelle Behandlung einem „der beiden“ Geschlechter zugewiesen, auch wenn aus medizinischer Sicht nicht immer Behandlungsbedarf bestanden habe. Abgesehen von der offenkundigen ethischen Fragwürdigkeit bestehe das Problem, dass man die Geschlechtsidentität eines Kindes nicht vorhersehen könne. So fühlten sich laut der Hamburger Intersex Studie über 25% der intersexuellen Teilnehmenden weder männlich noch weiblich, sondern zwischengeschlechtlich oder anders – und damit nicht eindeutig dem ihnen zugewiesenen Geschlecht zugehörig. Über die Frage nach dem Umgang mit diesen frühen, „rein kosmetischen“ bzw. normierenden Operationen herrschte Uneinigkeit. Hertha Richter-Appelt betonte, die rechtliche Ausgangslage verböte es Ärzt_innen bereits jetzt per se, medizinisch nicht indizierte chirurgische Eingriffe durchzuführen. Volker Beck kritisierte, dass man sich offensichtlich nicht daran halte und plädierte für eine strafrechtliche Regelung.
Das Karlsruher Urteil bietet nun die Gelegenheit, Intergeschlechtlichkeit sichtbarer zu machen und im öffentlichen Diskurs weiterzudenken. Vanja erhofft sich hierdurch mehr Sensibilität und Akzeptanz für die Diversität der Geschlechter und einen normalen Umgang mit Intersexualität. Das bedeutet, Intergeschlechtlichkeit nicht als exotisch oder außergewöhnlich abzustempeln, aber auch, nicht ständig dem Versuch, Verhaltensweisen zu klassifizieren, anheim zu fallen. So reagierte Vanja nach der Frage über die Bedeutung seines_ihres Bartes: „Nicht alles, was ich tue, muss ein Statement sein.“ Dass Geschlecht sehr vielfältig sein kann, denkt auch Hertha Richter-Appelt. „Als ich angefangen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, dachte ich zu wissen, was „weiblich“ und „männlich“ bedeutet. Jetzt weiß ich es nicht mehr.“
Welche konkreten Folgen kann das Karlsruher Urteil nun eigentlich nach sich ziehen? Volker Beck zufolge könne der Gesetzesentwurf entweder in einer Abschaffung des Personenstandes oder den Eintrag einer zusätzlichen dritten Option resultieren. Viel sinnvoller sei jedoch die Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes, da geschlechtliche Selbstbestimmung einzig und allein die Entscheidung des Individuums sein sollte und ein Urbedürfnis aller Menschen sei. „Gesetze sind für Menschen da, nicht andersrum.“, so Beck. Er schätzt das Vorhaben, bis Ende des Jahres den Gesetzesentwurf implementiert zu haben, als sehr ambitioniert aber wichtig ein.
Update: Mittlerweile ist ein Mitschnitt der Debatte online verfügbar.