„Es gibt die Meinung, man müsse die Kinder und Jugendlichen vor der Belastung, anders zu sein, schützen, indem man ihnen Wissen vorenthält und sie möglicherweise sogar so früh operiert, dass sie es gar nicht mitbekommen. Diese Ansicht teile ich nicht.
Ich glaube, dass es zu der Entscheidung für das eigene Kind und für sein Recht auf Selbstbestimmung gehört, ihm von Anfang an altersgerechte Informationen über seine Besonderheit zu vermitteln und andererseits immer wieder die Gewissheit zu geben, dass es so, wie es ist, geliebt wird.“
(Aus: Für mein Kind entscheiden. Eine Mutter, Intersexualität kontrovers, 2012, S. 157)
In der Vergangenheit haben Medizin und Psychologie dazu beigetragen, Intergeschlechtlichkeit und angeborene Variationen der körperlichen Geschlechtsentwicklung unsichtbar zu machen durch sogenannte geschlechtsangleichende oder gar „korrigierende“ Operationen und Erziehung.
Dieses Vorgehen ist massiv in die Kritik geraten. Erfahrungsexpert_innen, Aktivist_innen, Selbsthilfeorganisationen und Wissenschaftler_innen haben sich dafür eingesetzt, Intergeschlechtlichkeit als Ausdruck der Vielfalt der Natur anzuerkennen. In vielen Ländern sind infolge dieser Anstrengungen Veränderungsprozesse in Gang gesetzt worden.
Prozesse des Umdenkens haben in Medizin, Politik und Gesellschaft begonnen. So sieht das deutsche Personenstandsrecht seit 2013 vor, dass der Geschlechtseintrag bei einem Kind mit nicht bestimmbarem Geschlecht offen bleiben muss. Innerhalb der Medizin sind interdisziplinäre Leitlinien (2016) verabschiedet worden und die Bundesärztekammer hat sich 2015 in einer Stellungnahme zum Umgang mit Intergeschlechtlichkeit geäußert: Hier wird zu äußerster Zurückhaltung hinsichtlich irreversibler Eingriffe beim nicht-einwilligungsfähigen Kind mit Variationen der körperlichen Geschlechtsentwicklung geraten.
Dennoch bestehen weiterhin offene medizinische, psychosoziale und rechtliche Fragen, beispielsweise zur Notwendigkeit von Genitaloperationen, Entfernung der Keimdrüsen (Gonadektomien) und Hormongabe bei bestimmten Formen der Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale, aber auch zum „Erziehungsgeschlecht“ und zur Identitätsentwicklung und bestmöglichen Unterstützung betroffener Menschen. Auch wird beklagt, dass es weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch medizinische Eingriffe kommt. Die Kurzzeitbefragung des Bundesfamilienministeriums (2015) zur Beratungssituation bei Intergeschlechtlichkeit zeigte den großen Beratungs- und Aufklärungsbedarf, nicht nur bei Eltern intergeschlechtlich geborener Kinder, auf.
Ziele des Projekts intersex-kontrovers sind:
- Über die Existenz von Intergeschlechtlichkeit zu informieren,
- Wissen und Wissenslücken zu vermitteln,
- Kontroversen und Konflikte sichtbar zu machen und zu erforschen,
- und zur Würdigung körpergeschlechtlicher Mehrdeutigkeiten beizutragen.